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Minus-Archiv-Visionen 2007

April 2007

Stefanie Roenneke, Sonntag, 29 April 2007, 21:19 Uhr

Stil / Reste - Hinterlassenschaft

An einem 30. Juni schrieb eine Grundschullehrerin, von einer der zahlreichen Ho-Chi-Minh-Oberschulen (10 Klassen, allgemein bildend, polytechnisch), folgendes auf den Zeugnisvordruck (DIN A 5, Best.-Nr. 501 23):

"Stefanie ist eine freundliche und hilfsbereite Schülerin. Sie ordnet sich gut in das Klassenkollektiv ein und erfüllt übertragene Aufgaben zuverlässig. Obwohl sie die jüngste Schülerin der Klasse ist, steht sie den anderen Schülern sowohl in der Lernarbeit als auch in der Pionierarbeit in keiner Weise nach. Sie hat eine saubere Heftführung, arbeitet im Unterricht gut mit und kann ihr Wissen anwenden. In der außerunterrichtlichen Arbeit ist sie äußerst einsatzfreudig. Sie sammelt die meisten Altstoffe und verdient hierfür ein Lob."

Ich saß da, dachte über den Kakaofleck auf meiner einzigen weißen Bluse nach, und bereute die Entscheidung vom Abend zuvor - ausgehend von der Idee sich "schick zu machen" - den kratzigen, aber gold schimmernden Pullover angezogen zu haben. Ich schwitzte.

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Christian Kracht am Dienstag, 01 May 2007, 01:16 Uhr:
Ich teilte mit dem Sohn von Richard Sapper in Salem ein Stockbett. Wir nannten ihn immer "Eiter-Sapper", was mir im Nachhinein unendlich leid tut, weil er sich, glaube ich, spaeter erhaengte:http://www.modocom.de/akademie/diplomdesign04/Kracht/Kracht.htm

Stefanie Roenneke am Mittwoch, 02 May 2007, 16:57 Uhr:
Und ich kannte Barbourjacken tatsächlich nur, weil ich mehr als ein Jahr in Hamburg lebte und dort immer eine an der Garderobe hing.

Till Huber am Mittwoch, 02 May 2007, 18:19 Uhr:
Mir wurde kürzlich im sehr schrecklichen Restaurant Vogelkoje mein Portemonnaie aus meiner sehr schönen Strenesse Jacke geklaut.

spalanzani am Donnerstag, 03 May 2007, 11:15 Uhr:
Ich vermisse diese ganze Jackensache ja inzwischen sehr. Nicht die Grünblaufrage, von der hatten wir nur gelesen, nein, die unsicheren Gespräche unter den klügeren Kleinstadtabiturienten und die interessante Frage, wer von uns überhaupt wissen mochte, wovon die Rede war; unsere Bewusstseinsdämmerung ausgerechnet in den späten neunzigern, ein kurzer Code-Rausch mit sofortigem, brutalem und andauerndem Kater.



Stefanie Roenneke, Freitag, 27 April 2007, 09:33 Uhr

Konsum

Wir - Alexander, Katje und ich - betrachteten, im Kreis um die Auslage stehend, diese schwarzen Teller, Tassen und Schüsseln. Ich musste unweigerlich an meinen Bruder denken, der, zwölf Jahre älter als ich, sich Anfang der 90er Jahre, schwarzes Keramikgeschirr zugelegt hat, das nicht nur schwarz, sondern auch achteckig war. Irgendwie passte das, damals.

Und während Alexander noch überlegt hat, ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Gold Sprint" tragend, ob er sich doch das schwarze Kunststoffgeschirr kaufen sollte, mit Schalen, die aussahen wie kleine Hundenäpfe - was uns allen sehr gefiel - hatten Katje und ich schon zugeschlagen: Becher - klein, weiß, stapelbar, reduziert!

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Ingo Niermann am Samstag, 28 April 2007, 16:30 Uhr:
Wie konnte das passen, Anfang der 90er? Und warum heute nicht mehr?

Till Huber am Samstag, 28 April 2007, 18:05 Uhr:
Es handelt sich dabei um "Octime" von arcoroc. Gut geeignet zum Abhalten eines Des Esseintesschen Leichenschmauses.

Stefanie Roenneke am Samstag, 28 April 2007, 20:04 Uhr:
Es passte damals, weil die Stillinie, entstehend durch die lockig-aparte Frisur meines Bruders und seiner Freundin, der durchaus lebhaft-bunten Inneneinrichtung seiner Wohnung, der Überschwang an geometrischen Formen auf der Polsertung des Sofas, sowie auf Tapete und Teppich, und der seidig-schmiegsamen Balonhose in türkis, für mich einfach wundervoll war.
Eventuell ist das heute auch noch möglich, aber der Teller ist nur noch ein Fossil zwischen all den weißen Bechern.

Daniel Windheuser am Sonntag, 29 April 2007, 04:30 Uhr:
Wir werden heute nur schwarze Speisen zu uns nehmen.

Ingo Niermann am Sonntag, 29 April 2007, 08:28 Uhr:
Also ist auch das achteckige Geschirr nur eine Mutation des Memphis?

Till Huber am Sonntag, 29 April 2007, 09:19 Uhr:
Etwa einen Espresso aus der Octime-Tasse, serviert von Autonomen.

Stefanie Roenneke am Sonntag, 29 April 2007, 10:13 Uhr:
Ja, Memphis, das könnte durchaus sein. Gute Idee. Ich hatte auch schon vorsichtig daran gedacht. Dann doch Angst bekommen. (Werde dem nachgehen)
Ähnlich der Angst, wie undurchsichtig das Essen auf diesen Tellern wurde und ich nie etwas esse, was ich nicht erkenne.

Ingo Niermann am Sonntag, 29 April 2007, 11:05 Uhr:
Als Kind hat man immerhin die Freude, nacheinander von acht verschiedenen Seiten zu essen und zu trinken. Erwachsene drehen beim Essen vom Achteck den Teller erst recht nicht und sind beim Trinken aus dem Achteck erst recht darauf bedacht, immer dieselbe Stelle des Glases anzusetzen. Die ursprünglich gerade auch an Erwachsene gerichtete Unbekümmertheit des Memphis wird ins Gegenteil verkehrt.

Christian Kracht am Sonntag, 29 April 2007, 11:21 Uhr:
Manchmal ist es auch die Angst vor der eigenen Milchspucke, die einen als Kind zwingt, das achteckige Glas bei jedem Trinken herumzudrehen, bis man wieder an der urspruenglichen Stelle angelangt ist, die hoffentlich dann schon trocken ist.

Till Huber am Sonntag, 29 April 2007, 11:54 Uhr:
Aus aufklärerischer Sicht finden es die Leute vielleicht auch nicht mehr lustig, nicht zu erkennen, was sie essen.

Daniel Windheuser am Sonntag, 29 April 2007, 12:15 Uhr:
Ich hatte soeben das Vergnügen, einen Berliner, oder, wie man in den hiesigen Regionen Deutschlands sagt, Pfannkuchen, welche Jens Thiel sehr gerne und oft zu drei Stück für 99 Cent beim Discountbäcker am Bahnhof kauft, von einem kleinen Octime-Teller zu mir zu nehmen, der wahrhaftig und ungelogen den obersten Abschluss des bunt gemischten Stapels im lokalen Geschirrschrank bildete, als ich letzteren vorhin öffnete. Ich habe den Teller nicht gedreht, beim Essen.

Till Huber am Sonntag, 29 April 2007, 12:44 Uhr:
Dann ist das schwarz-Dogma mit dem Berliner jetzt offiziell gefallen. Und warum hast du nicht gedreht? Schade.

Stefanie Roenneke am Sonntag, 29 April 2007, 14:02 Uhr:
Ganz unglaublich war es dann auch, wenn die Hände in dem viel zu heißen Spülwasser untergingen. Das Wasser musste natürlich so heiß sein, dass die Hände krebsrot und leicht taub wurden. So ergriff man den ersten schwarzen Teller, hielt in hoch und fand es ganz wunderbar, wie das Schwarze glänzte, bis das Wasser langsam von der Oberfläche verschwand. Fast bedauerlich, dass wir damals nur zu viert waren.

villabor am Montag, 30 April 2007, 15:51 Uhr:
ich kenne jemanden mit achteckigem, schwarzem geschirr. ihr könnt mir sagen, was ihr wollt: der kaffe aus diesen tassen schmeckt scheisse. und der kuchen von den teller schmeckt wie gekaufter industriekuchen. dieses geschirr ist from outer space. grauenhaft.

Till Huber am Montag, 30 April 2007, 16:56 Uhr:
Hab nochmal eine Design-Kennerin gefragt: Octime komme wohl tatsächlich aus der Memphis-Ecke.


Stefanie Roenneke, Donnerstag, 26 April 2007, 09:34 Uhr

Reise

Ich dachte gerade an Urlaub und meine doch nur: "Mehr Zeit".

Daraufhin habe ich meinen "Diercke Weltatlas" von Westermann in die Hand genommen und mir überlegt, wie es möglich wäre, sich heutzutage noch interessante Reiseziele zu kreieren, die über die Fragen bezüglich Fahrt und Hotel hinausgehen. Und da Niklas Maak in einer Ausgabe der FAZ bereits zur Entspannung animierendes Panzer fahren in Brandenburg vorgestellt hat, und "Die Große Pyramide" noch nicht steht, verbleibt mir nur die Möglichkeit, einen globalen Vorschlag zu machen.

Ich schlage Seite 238 auf. Da steht "Erde - politische Übersicht". Nach kurzer Überlegung beginne ich, zu bereisende Länder mit verschiedenen Farben zu umranden. Ich ergänze die Legende gemäß Rotberg, die sich links neben der Karte befindet:

strong states
weak states
failed states
collapsed states

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Stefanie Roenneke, Mittwoch, 25 April 2007, 10:22 Uhr

Konsequenz

"Katharina, hörst du mich, ich habe letzten Donnerstag meine zweite Abschlussprüfung hinter mich gebracht und jetzt würde ich gerne nach Essen kommen, zu Dir, speisen und Wein trinken, reden, über Obszönes lachen, das Übliche."

22 Uhr 25 habe ich Gleis 6 des Essener Hauptbahnhofs betreten, mit vier Gläsern Rotwein und einem Glas Sekt in mir. Ich habe noch nie viel Alkohol vertragen, dachte ich, während ich das Gras zwischen den Gleisen betrachtete, das schon im Dezember da war und grün schimmernd zwischen den Steinen wuchs. Während ich da stand und wartete, fragte ich mich, ob gerade jemand schreit: "Hat er ihn erschossen? Hat er ihn erschossen?"

Und ein anderer sitzt vor dem Fernseher und hält dabei eine alte Ausgabe der Berliner tageszeitung von 1997 in den Händen. Seine Finger gleiten über den Satz, der durch die ständige Reibung langsam verschwindet: "Wir waren so unheimlich konsequent." Andernorts stürmt ein junger Redakteur das Büro des Ressortleiters für Kultur, der über die leere halbe Seite nachdenkt, und schreit: "Fried. Fried. Fried."

Mir war übel.
Mein Zug kam um 22 Uhr 53.

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Jens Thiel am Mittwoch, 25 April 2007, 12:59 Uhr:
Vorgestern abend erzählte mir ein Freund, wie ihm sein Therapeut die Lektüre von Paulo Coelhos "Alchimist" empfahl. Nach der Chance journalistischer Tätigkeit in reichweitenstarken Medien ist nun auch die Möglichkeit wirksamer psychotherapeutischer Behandlung auf Spezialfälle zu begrenzen.


Stefanie Roenneke, Dienstag, 24 April 2007, 10:41 Uhr

Editorial

Der Reiz der Erstausgabe ist groß. Jener nicht veröffentlichter Erstdruck, der schon Teil seines eigenen Diskurses ist. Erwartungsvoll streift der Blick über die Zeitschriftenauslage, vorbei an dem Bekannten, über das Pornografische hinweg, hin zum vermeintlich Neuen. Mit großer Erwartung wird das Heft in die Hand genommen, Cover und Inhalt gesichtet, das Impressum überflogen und schnell die letzte Seite begutachtet. Dann wieder die erste Textseite: das Editorial. Kurzzeitig wird noch über den Sinn oder Unsinn eines Manifestes nachgedacht, welches sich vor dem Editorial befinden könnte. Augenblicklich zerreisst der Leser das Alte, verflucht etwas Bestimmtes, nickt erlesene Stichpunkte wohlwollend ab und schreit plötzlich los, überzieht ein Girokonto und schreibt ein Gedicht. Das Alte ist neu und dies - das, hier - dort, oben - unten sind neu angeordnet.

Sie schwebt zwischen neu ausgerichteten Standaten durch ihr Leben und ist doch dieselbe, nur ihre Schritte werden kurzzeitig schneller und härter. Ich schaue auf, sehe euch vorbeigehen.

"Guten Tag!"

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Christian Kracht am Dienstag, 24 April 2007, 12:23 Uhr:
Freue mich auf Ihr Erscheinen, Frau Roenneke.

hnng am Montag, 30 April 2007, 20:17 Uhr:
aber hallo


Ingo Niermann, Dienstag, 24 April 2007, 07:24 Uhr

Metan - letzte deutsche Vorstellungen

27.04. 19 Uhr
Metanwissenschaften, Wissenschaftsakademie, Torstr. 94, Berlin

04.05. 22 Uhr
Nachtlinie Politik, Kammerspiele Neues Haus, Falckenbergstr. 1, München

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Jens Thiel, Montag, 23 April 2007, 10:42 Uhr

Blogger in Residence: Stefanie Roenneke

Minusvisionen.de begann im November 2003 als "Weblog zum Buch", das schließlich vor einigen Monaten in die 3. Auflage gegangen ist. Bald wurde es mein "Weblog nach dem Buch", blieb einige Zeit stumm, kam wieder, bot in jüngster Zeit erregten Diskussionen um Ingo Niermanns und Christian Krachts Buch "Metan" Herberge, lag bei all dem selbst aber etwas lose und unentschieden herum.

Im Zuge der Metangefechte trat Stefanie Roenneke in unseren Kreis, an die wir nun weiterreichen. Ankündigungen zu Aktivitäten von Ingo Niermann und Jens Thiel wird es weiterhin geben - im Großen und Ganzen wird aber Stefanie die Brache hier mit neuem Leben füllen. Wir freuen uns darauf.

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Ingo Niermann, Montag, 16 April 2007, 20:31 Uhr

Careless Whisper

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